Erlernte Hilflosigkeit?

Seit einiger Zeit wird auch in der Pferdewelt immer wieder über „erlernte Hilflosigkeit“ gesprochen. Diese Formulierung stammt von den amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman und Steven F. Maier zur Erklärung von Depressionen. Beschrieben wird damit die Tatsache, dass ein Wesen (Mensch oder Tier) sein eigenes Verhalten einschränkt und unangenehme Zustände nicht verändert, obwohl er oder es das von außen betrachtet eigentlich können müsste. Ursache dafür ist die wiederholte Erfahrung von Machtlosigkeit. 

Bezeichnenderweise wurden für dieses Phänomen grausame Versuche an Hunden gemacht, durch die eines deutlich wurde: Wesen, die nichts gegen Leid machen können (also ihm z.B. nicht entfliehen können), geben irgendwann auf und lassen das Leid über sich ergehen.

Und damit kommen wir genau zu dem Punkt, um den es mir hier geht. Für mich ist der Begriff  „erlernte Hilflosigkeit“ sträflich irreführend. Er umschreibt nämlich auf eine viel zu harmlose Weise etwas sehr Schlimmes. 

Tatsache ist:

Hilflosigkeit wird
viel mehr erzeugt als erlernt.

Und verantwortlich dafür sind sehr oft wir Menschen. Überlegen wir doch einmal selbstkritisch und ehrlich, in wie vielen Situationen Pferde durch Menschen in eine hilflose Position gebracht werden. Mir fallen sehr, sehr viele ein…  

Hilflosigkeit ist eine schlimme Erfahrung

Hilflosigkeit, das wissen wir alle,  ist ein Zustand, der ausgesprochen unangenehm ist und das gilt ganz besonders für ein instinktiv reagierendes Wesen wie das Fluchttier Pferd.

Versetzt man ein Wesen immer wieder in diesen Zustand, dann lernt es Ohnmacht und reagiert mit (Selbst-)Aufgabe, es reagiert immer weniger um seine Situation zu verbessern, sondern es erträgt, was mit ihm gemacht wird. 

Was diese eh schon traurige Tatsache dann noch furchtbarer macht, ist dass dieses Nicht-Reagieren gerade in der Pferdewelt dann auch oft noch so interpretiert wird, dass das, was der Mensch macht, ja nicht so schlimm sein kann, weil sich das Pferd doch sonst wehren würde und weil die untereinander ja auch nicht zimperlich sind oder weil das Pferd einfach so „stur“ und „bockig“ ist… 

Ursachen von Hilflosigkeit

Die Ursachen für ein Gefühl von Hilflosigkeit bei Pferden können vielfältig sein und es sind so gut wie immer wir Menschen, die wir ein Pferd in diesen Zustand bringen, z.B. durch Folgendes:

  • Wir Menschen überfordern Pferde mit Anforderungen oder unklaren Zeichen und bestrafen sie dann durch aggressives Verhalten (Anbrüllen, Schlagen, andere körperliche Strafen) für unerwünschtes Verhalten, was das Pferd aber nicht verstehen und umsetzen kann. Es weiß oft nicht, wofür es bestraft wird und es hat keine Chance, herauszufinden, was der Mensch will oder nicht will —> die meisten Pferde resignieren dann irgendwann. 
  • Mit Hilfsmitteln wie scharfen Gebissen, Sporen, Hilfszügel & Co sorgen wir Menschen dafür, unsere Einwirkung um ein Vielfaches erhöhen und damit enorm viel Kraft und Schmerzen ausüben zu können; je mehr sich das Pferd wehrt, desto stärker erfolgt der Einsatz –> irgendwann erlischt die Gegenwehr bei den meisten Pferden.  
  • Pferde werden oft systematisch auf eine Weise geritten, die sie in eine hilflose Postion bringt (Stichwort „Rollkur“ und vergleichbare Trainingsmethoden) –> sie resignieren irgendwann vollständig.
  • Nicht passendes Zubehör oder falsche Einwirkung von „Hilfen“ sorgen für dauerhafte Schmerzen, denen das Pferd nicht entkommen kann —> die meisten Pferde ertragen es irgendwann nur noch.
  • Das Pferd empfindet Angst, aber statt dass der Stressfaktor reduziert wird, wird das Pferd auch noch für sein Verhalten (Scheuen, Tänzeln etc.) bestraft oder der Stressreiz wird mit dem Ziel der Desensibilisierung erhöht, bis das Pferd versteht, dass es keine Angst haben muss —> tatsächlich gibt es aber nur auf.
  • Die Haltung des Pferdes ist nicht artgerecht: zu wenig Bewegung, keine Sozialkontakte, zu wenig Futter usw.) —> das Pferd verkümmert und gibt innerlich auf. 
  • Und anderes mehr. 

Ein hilfloses Pferd ist immer ein Pferd in Not

Um es ganz deutlich zu sagen: Ein hilfloses Pferd ist in den meisten Fällen (wenn wir nicht gerade von Unfällen o.Ä. sprechen) ein Pferd, das nicht pferdegerecht, sondern falsch und schlecht behandelt wurde. Es lernt in diesem Fall nichts, sondern es wird durch das Fehlverhalten des Menschen in eine Notsituation gebracht – sei es, dass er es nicht besser weiß oder nicht anders kann oder auch noch der Meinung ist, dass er sich richtig verhält. 

Lernen müssen in all diesen Fällen wir Menschen, denn für den Zustand der Hilflosigkeit gibt es immer Ursachen, die nicht das Pferd lösen kann, sondern nur wir. Nur, wenn wir bereit sind, unseren eigenen Teil in dem Ursache-Wirkung-Kreis zu erkennen, können wir unser Verhalten verändern, um Pferde nicht immer wieder hilflos zu machen. 

 

Erlernte Hilflosigkeit

Zum Weiterlesen: 

17. April 2018 von Tania Konnerth • Kategorie: Engagement und Pferdeschutz, Erkenntnisse, Umgang, Verhalten 5 Kommentare »

 

5 Reaktionen zu “Erlernte Hilflosigkeit?”

 

Von Lina • 17. April 2018

Was ihr schreibt, ist wie so oft, sehr richtig und wichtig.
Doch leider muss ich diesmal ein klein bißchen meckern: was ist denn die Alternative?
Mein Pferd hat Angst vor der „Draussen-Welt“. Aber wie kann ich ihm diese Angst nehmen, ohne ihn immer wieder damit zu konfrontieren und den Reiz Stück für Stück zu erhöhen, sobald sein offensichtlicher Stress nachlässt? Wie findet man den schmalen Weg zwischen Vertrauen aufbauen und das Pferd in die erlernte Hilflosigkeit schubsen?
Momentan mache ich gerade nicht viel, weil ich meinen/unseren Weg noch nicht gefunden habe. Aber ich werde es trainieren müssen, da spätestens im Krankheitsfall das Tier die Draussen-Welt betreten muss. Und wenn ein Notfall eintritt, will ich dem nicht mit Panik begegnen müssen.

_________________

Hallo Lina,

schau mal in diesen Artikel: https://www.wege-zum-pferd.de/2018/03/13/missverstandenes-anti-scheu-training/ – vielleicht gibt er Dir einige Ideen. Entscheidend ist, denke ich, immer MIT dem Pferd, also seiner Persönlichkeit) zu arbeiten, dann befähigt man ein Pferd und überfordert es nicht.

Alles Gute für Euch,
Tania

 

Von Michaela • 18. April 2018

Sind nicht ALLE domestizierten Pferde, dieser, durch Menschenhand, erzeugten Hilflosigkeit ausgeliefert? Jeder Zaun, jedes Halfter, jede Fuehrleine, jedes „Leckerlie“ dienen nur dem einen Zweck, Pferde ihrer Freiheit, ihren freien Willen zu berauben – direkt durch Zwang oder indirekt durch Taeuschung! Wer Pferde in ihrer Freitheit begrenzt, begrenzt sich selbst, wer Pferde tauescht, beluegt und taeuscht sich selbst, wer Pferde von sich abhaenig und hilflos macht, gibt Zeugnis von seiner eigen Hilflosigkeit und Abhaengigkeit. Der Mensch wird NIE, auch wenn er sich noch so viel Muehe gibt, Pferden in Gefangenschaft ein artgerechtes Leben, wie in Freiheit bieten koennen. Auch ein „goldener Kaefig“ bleibt ein „Kaefig“! Wer Pferde wirklich LIEBT, wird ihnen ihr Urrecht „geboren um frei zu sein“ nicht aberkennen und somit vorenthalten, sondern diese ihre „Welt der Freiheit“ akzeptieren.

 

Von Regina • 19. April 2018

Danke michaela für diese weisen worte 🙂

 

Von Anna Howe • 30. April 2018

Liebe Michaela,
Das sind in der Tat wunderbare Worte. Jetzt frage ich mich aber, wie sollte das vonstatten gehen und vorallem WO?
Es gibt in ‚Life of Pie‘ von Yann Martel im 4. Kapitel eine interessante Passage: wir verschönen oft das ‚Leben in Freiheit’wir ‚verklären‘ das Leben in der Wildnis. Für die Raubtiere kann es ja gut sein jedoch für Beutetiere (wie auch Pferde) gibt es zahlreiche Gefahren (abgesehen von Verletzungen, Parasiten, Hierarchiekämpfe und elendigliches Zugrunde gehen).Sind die wirklich frei oder Getriebene vom Ueberlebenskampf?
Liegt das Richtige vielleicht in der Mitte? Pferde die artgerecht gehalten und geliebt werden führen, meiner Meinung nach ein absolut lebenswertes Dasein.

 

Von Katarina • 23. Mai 2018

Liebe Michaela,
im Prinzip hast du Recht, aber alle Haustiere, die wir heutzutage haben, haben wir selbst geschaffen bzw. würden ohne uns nicht existieren. Die meisten würden elendlich in der Wildnis verrecken, wenn wir sie einfach frei ließen. Ob Masthuhn und empfindlicher Vollblüter oder Hochleistungssportpferd – ohne Spezialfutter und Wärmeschutz, Pflege und Hege wären sie verloren in der Wildnis (vorausgesetzt, diese Wildnis gäbe es in unseren Breiten noch; und mal davon abgesehen, dass wir ihnen natürliche Instinkte in vielen Bereich weggezüchtet haben). Konsequenz: keine Haustiere mehr halten bzw. nach und nach aussterben lassen und Wildtiere in ihrem natürlichen Lebensraum belassen.

 

 

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