So unterschiedlich zeigen Pferde Stress
Vor einiger Zeit hatten wir gezeigt, wie man Schmerzen beim Pferd erkennt, weil immer noch zu viele Menschen, die mit Pferden zu tun haben, nicht wirklich wissen, wie sich Schmerzen beim Pferd äußern. Und ganz Ähnliches gilt für die Frage, wie sich Stress bei Pferden erkennen lässt!
Na, das ist doch ganz einfach!?
Viele werden nun sagen, dass sich Stress ja bei Pferden sehr einfach erkennen lässt. Aber ist das wirklich so? Machen wir mal einen kleinen Test:
Erlebt dieses Pferd gerade Stress?
Und wie sieht es mit diesem Pferd aus?
Und was ist mit diesen beiden Ponys?
Natürlich ist eine Beurteilung nach einem Standbild nur begrenzt möglich, aber ich denke, die meisten Menschen würden wohl sagen, dass die Pferde auf den ersten beiden Fotos eher gestresst wirken, während die beiden auf dem unteren Foto ziemlich entspannt aussehen.
Stress bei Pferden hat viele Gesichter
Tatsächlich aber sind auf allen Bildern Pferde zu sehen, die zum Zeitpunkt der Aufnahme Stress erlebten.
- Das erste Foto entstand auf einem Turnier auf dem Abreitplatz. Das Pferd war sehr nervös und durch die vielen Reize und fremden Pferde abgelenkt, worauf der Reiter versuchte, es durch leider sehr grobe Einwirkung unter Kontrolle zu bringen.
- Auf dem zweiten Bild ist positiver Stress zu sehen, nämlich die freudige Erregung durch das Anweiden. Die Herde wurde kurz zuvor auf den Sommer-Paddock gebracht und tobte wie wild herum. Freudiger und negativer Stress können ziemlich ähnlich aussehen (fühlen sich aber natürlich für das Pferd sehr unterschiedlich an).
- Die beiden Pferde auf dem dritten Foto werden für die meisten sicher eher entspannt als gestresst wirken, aber das ist ein Irrtum. Sie standen zwar die meiste Zeit (vermeintlich) ruhig herum, wer sie aber kennt und genau hinschaute, konnte beobachten, dass sie z.B. nicht wie sonst fraßen oder dösten, sondern immer mal wieder an verschiedenen Stellen am Zaun standen, mehr als sonst in die Gegend schauten und gelegentlich kurz wieherten. Tatsächlich standen die Ponys zum Zeitpunkt der Aufnahme schon für einige Stunden ohne ihre beiden Pferdekumpels auf dem Paddock, die an diesem Tag auf einem Turnier waren. Sie waren sehr besorgt und erwarteten sehnlichst die Rückkehr ihrer Gefährten.
Und das macht eines deutlich: Stress kann bei Pferden sehr unterschiedlich aussehen!
Stresstypen beim Pferd
Wir können zwei grundlegend unterschiedliche Stresstypen bei Pferden unterscheiden:
- Erstens gibt es die so genannten „aktiven“ oder „extrovertierten“ Stresstypen – Pferde diesen Typs zeigen ihren Stress je nach Ausprägung deutlich durch Unruhe, sie tänzeln oder rennen wild umher, richten ihre Hälse hoch auf, haben aufgerissene Augen und geblähte Nüstern, sie schnauben und prusten und atmen schnell, sie schwitzen, schlagen mit dem Kopf, äppeln häufig und neigen zu Übersprungshandlungen, wie Schnappen, Scheuen oder Losreißen. Sie entsprechen damit dem Bild, das die meisten Menschen im Kopf haben, wenn man vom Stress beim Pferd spricht. Bei der Arbeit bieten solche Pferde unter Stress oft alles Mögliche an, nehmen Signale vorweg und sind kopflos, übereifrig und „hibbelig“. Leider reagieren viele Menschen auf dieses Verhalten mit Strenge. Die Pferde werden dann angeherrscht, dass sie sich zusammenreißen sollen, oder auch körperlich durch Rucken am Zügel, Klapsen u.ä. bestraft. Natürlich erhöhen solche Maßnahmen den Stress der Pferde.
- Dann gibt es aber noch die „passiven“ oder „introvertierten“ Stresstypen – Pferden, die zu diesem Typ gehören, merkt man Stress kaum an. Sie wirken auch unter großem Stress ruhig und unbewegt, was viele fälschlich als „gelassen“ deuten. Sie werden oft als faul oder stur bezeichnet, weil sie unter Stress immer mehr dichtmachen, Signale ignorieren und unter Umständen komplett die Mitarbeit verweigern und regelrecht erstarren: ihr Körper ist dann bretthart, sie sind nicht mehr ansprechbar und nehmen häufig auch kein Leckerli mehr. Ein typisches Beispiel ist das vor dem Pferdeanhänger „festgefrorene“ Pferd, welches zu keinem, weiteren Schritt in den Hänger bereit ist, aber dabei einen „ruhigen und gelassenen“ Eindruck macht. Da viele Menschen bei diesen Pferden nicht auf die Idee kommen, dass die Tiere unter Stress stehen, werden sie oft falsch und ungerecht behandelt. Nicht selten erleben auch sie Gewalt, weil der Mensch meint, sich „durchsetzen“ zu müssen. Auch für diese Pferde erhöht das natürlich den Stress, der sich dann – scheinbar vollkommen unerwartet – explosiv entladen kann. Das sind dann die Fälle, in denen ach so „gemütliche Dicke“ durchgehen und es richtig gefährlich wird …
Fazit – Drei wichtige Erkenntnisse
- Es ist wichtig, unseren Blick zu schulen und unser Einfühlungsvermögen zu trainieren, um auch Stress bei Pferden zu erkennen, die dem passiven Stresstyp angehören, denn Stress zeigt sich nicht immer nur durch Aufregung. Auch ein scheinbar ruhiges Pferd kann je nach Stresstyp gestresst sein. Es gibt sogar Pferde, bei denen gerade ihre vermeintliche „Ruhe“ ein Anzeichen für Stress ist.
- Ein gestresstes Pferd braucht immer Verständnis und eine beruhigende Ausstrahlung, die dem Pferd Sicherheit vermittelt. Wenn wir den Stress als Not des Pferdes erkennen – und zwar unabhängig davon, welchem Typ das Pferd angehört – können wir überlegen, welche Maßnahmen geeignet sind, den Stresspegel des Pferdes in der jeweiligen Situation zu senken.
- Stress bei Pferden löst oft auch Stress bei uns selbst aus. Der Stress bei Pferden vom aktiven Stresstyp macht vielen Menschen Angst, die Stressreaktionen des passiven Stresstyps hingegen lösen häufig Wut und/oder Aggressionen aus. Es ist wichtig, dass wir solche Reaktionen bei uns bewusst wahrnehmen und lernen, wirkungsvoll gegenzusteuern, damit wir die Situation auf eine gute Weise entschärfen können.
Bei Stress sind wir alle gefragt
Leider ist das Wissen über die unterschiedlichen Stresstypen bei Pferden noch nicht allzu verbreitet. Hier sind wir alle gefordert, in der Praxis all jene freundlich aber bestimmt auf die Tatsache hinzuweisen, dass sich Stress bei Pferden nicht immer klar zeigt, um zu verhindern, dass passive Stresstypen vor allem Grobheit und Gewalt statt Verständnis und Unterstützung erleben. Genauso können wir Hilfe und Unterstützung anbieten, wenn jemand mit der Aufregung eines Pferdes, das zum aktiven Stresstyp gehört, überfordert ist, und das mit Gewalt in den Griff zu bekommen versucht.
Stress ist unvermeidlich – für uns Menschen genau wie für unserer Pferde. Deshalb ist es wichtig, sich mit diesem Thema zu befassen, zu lernen, die Reaktionen von Pferden besser einzuordnen und auch ganz gezielt den Umgang mit gestressten Pferden zu üben. Je souveräner wir mit Stressreaktionen umgehen können, desto besser lässt sich der Stress auflösen.
Lies hier auch über die Beschwichtigungssignale beim Pferd.
Tipp: In unserem Kurs „Vertrauen statt Angst“ gibt es ganz praktische Tipps, Übungen und Anregungen, wie sich Stress- und Angst-Situationen für Mensch und Pferd konstruktiv gestalten lassen.
29. Oktober 2019 von Tania Konnerth • Kategorie: Engagement und Pferdeschutz, Gesundheit, Verhalten • 2 Kommentare »