Pferde sind vielschichtige Wesen
Ich stelle immer wieder fest, wie viele Menschen annehmen, dass Pferde eher einfach gestrickt sind, ja, gar nicht wenige halten Pferde sogar für dumme Tiere. Das macht mich traurig, denn ich habe ganz andere Erfahrungen mit diesen wundervollen Tieren gemacht.
Labels greifen zu kurz
Man mag die Vielschichtigkeit der oft stark ausgeprägten Persönlichkeiten von Pferden nicht immer auf den ersten Blick erkennen. Wenn man ein Pferd zum Beispiel nur aus dem Stall holt, um eine Reitstunde zu absolvieren, und es dann wieder zurückstellt, kann man durchaus einen eher eindimensionalen Eindruck von dem Pferd bekommen. Da ist dann vielleicht „der Brave“, der immer macht, was man von ihm will oder „die Zicke“, die schon beim Putzen ausschlägt und keine anderen Pferde mag oder „der Faule“, den man im Unterricht kaum vorwärts bekommt oder „die Dominante“, bei der man aufpassen muss, sich nichts gefallen zu lassen.
Keines solcher Etiketten wird einem Pferd gerecht – und doch sind die wenigsten davon frei, Pferden ein Label aufzudrücken.
Tipp: Überprüft Euch da doch gleich einmal selbst: Habt Ihr auch Schubladen, in denen Ihr Pferde steckt?
Wir sehen Pferde oft durch die Augen anderer
Wenn wir mit Pferden zu tun haben, dann schauen wir sie oft beeinflusst durch verschiedene Faktoren an, derer wir uns nicht immer bewusst sind.
Zum Beispiel werden wir beeinflusst durch
- das, was andere uns über Pferde allgemein oder auch über ein bestimmtes Pferd erzählt haben,
- das, was wir über Pferde gelesen haben,
- das, was wir in Workshops vermittelt bekommen haben.
- unsere eigenen Erfahrungen, die wir mit Pferden in der Vergangenheit gemacht haben,
- das, was wir in einem Pferd sehen wollen,
- den aktuellen Fokus, den wir gerade haben,
- unsere Wünsche und Erwartungen,
- unsere blinden Flecken, die uns nicht alles wahrnehmen lassen, obwohl es da ist,
- unsere Ängste
- und vieles mehr.
Die Filter, mit denen wir auf ein Pferd schauen, sorgen dafür, dass wir Pferde oft ziemlich schablonenhaft sehen: der faule Haflinger, der durchgeknallte Araber, der ehrgeizige Hannoveraner und so weiter. So sind wir leider nicht immer offen dafür, die Eigenheiten und Besonderheiten an jedem einzelnen Pferd zu erkennen und zu würdigen. Wir sind es gewohnt, nur auf bestimmte Sachen zu achten, oder interpretieren ein Verhalten immer auf eine bestimmte Art. Manchmal wollen wir etwas auch gar nicht wahrnehmen und denken uns die Welt, wie sie uns gefällt, weil wir nicht von unseren eigenen Vorstellungen und Wünschen ablassen wollen.
Vereinfachung hat negative Folgen
Die Tendenz, Pferde schablonenhaft zu sehen, hat negative Folgen. Ein sehr anschauliches Beispiel ist die inzwischen länge überholte, aber leider immer noch weiter propagierte Dominanztheorie. Danach werden verschiedenste, ganz unterschiedlich motivierte Verhaltensweisen als so genanntes „dominantes“ Verhalten gedeutet und so gut wie immer mit Härte beantwortet. Es wird nicht erkannt, dass ein Pferd vielleicht aus ganz anderen Gründen schlägt, zum Beispiel weil es kitzlig ist oder überfordert oder Schmerzen hat oder dass ein Pferd nicht aufdringlich ist, weil es ein Bully ist, sondern weil es unsicher ist.
Verallgemeinerungen und Pauschalannahmen geben uns das Gefühl, die Welt besser ordnen zu können. Indem wir Pferde in bestimmte Schubladen stecken, glauben wir zu wissen, wie wir mit ihnen umgehen müssen, was uns ein (in der Regel irrtümliches) Gefühl von Kontrolle gibt. Wir sind dann oft nicht nur in unserem Umgang mit dem Pferd auf dem Holzweg, wir versäumen auch, das Pferd mit seiner ganz eigenen Persönlichkeit kennenzulernen. Und das ist schade! Pferde haben so viel zu schenken und wir können endlos viel von ihnen lernen, wenn wir bereit sind, sie in ihrem tatsächlichen Wesen zu erkennen. Für mich sind es zunehmend die Vielschichtigkeit und Tiefe von Pferdepersönlichkeiten, die mich begeistern und verzaubern.
Und so möchte ich laut in die Pferdewelt rufen: Habt mehr Mut, ein Pferd wirklich kennenzulernen! Gesteht ihnen eine eigene Persönlichkeit zu und lasst Euch davon überraschen, wie vielschichtig sie sind.
14. Mai 2019 von Tania Konnerth • Kategorie: Engagement und Pferdeschutz, Erkenntnisse, Verhalten • 3 Kommentare »