Freiarbeit ist Energiearbeit

Ich darf zur Zeit immer mal wieder mit einem Pferd arbeiten, von dem ich sehr viel über die Freiarbeit lerne – und zwar mit Dreamer von Maja Wolpers (Tipp: ihn könnt Ihr auch in meinem Kurs zum Freiraum-Training erleben).

Freiarbeit

Dreamer ist ein ausgesprochen temperamentvolles und sensibles Pferd, bei dem, so darf ich das wohl sagen, Genie und Wahnsinn recht dicht beieinander liegen. 😉 Für mich also durchaus ein ganz anderer Typ Pferd, als was ich so gewohnt bin, und genau das macht es so spannend!  

Eine Frage der Energie

Dreamer zeigt mir deutlicher als alle anderen Pferde bisher, das Freiarbeit Energiearbeit ist. Mein Job ist es, mit unserer Energie spielen zu lernen, wie mit einem Instrument. Es geht darum Stress (also Misstöne) zu vermeiden und Dreamer darin zu leiten, seinen meist sehr hohen Energielevel in Stärke und Schönheit präsentieren zu können. 

Bei einem Pferd wie Dreamer wird die eigene Körpersprache zu einer Gratwanderung, denn ein Hauch zu viel kann aus ihm einen fauchenden Drachen machen, der dann mit gefühlten drei Metern Körpergröße vor einem steht:

Freiarbeit

Hier kann man gut die trompetenartig aufgeblähten Nüstern sehen, durch die er in solchen Situationen eindrucksvoll laut stoßweise ausatmet:

FreiarbeitAuslöser für die Aufregung in diesem konkreten Fall: Ich hatte körpersprachlich einen kleinen Fehler gemacht, worauf Dreamer – vollkommen korrekt – abwendete und die Richtung wechselte. In der nächsten Runde achtete ich besser auf meine Körpersprache, aber er wendete dennoch an derselben Stelle ab, wohl davon ausgehend, dass ich das wieder wollen würde. Obwohl ich lachte merkte er sofort, dass nun er einen Fehler gemacht hatte und das ließ seinen Stresspegel sofort hochschnellen.

Dreamer reagiert oft extrem gestresst, wenn er das Gefühl hat, einen Fehler gemacht zu haben und das muss ich in der weiteren Zusammenarbeit mit ihm berücksichtigen. Ich versuche, „Fehler“ gar nicht mehr als solche wahrzunehmen, sondern meinen Fokus unmittelbar auf eine andere Aktivität zu richten. Würde ich meine Energie in die Korrektur des Fehlers investieren, würde ich seinen Stresspegel extrem erhöhen. Statt dessen nehme ich die Energie für den Moment ganz weg und erarbeite mir die Sache quasi nebenbei noch einmal in Ruhe. 

Interessant ist, dass auch begeistertes Lob bei diesem Pferd Stress auslösen kann, so dass ich selbst bei freudiger Energie aufgerufen bin, sie dem Nervenkostüm Dreamers anzupassen. Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Es geht darum zu lernen, unsere eigene Energie auf das jeweilige Pferd in der jeweiligen Situation abzustimmen.

Energiearbeit erfordert ein Hinfühlen

Um bewusst mit der eigenen Energie und der des Pferdes arbeiten zu können, brauchen wir die Bereitschaft und auch die Fähigkeit zum Hinfühlen.

Ich muss ein Gespür dafür bekommen, wie es dem Pferd gerade geht:

  • Nimmt das Pferd mich überhaupt wirklich wahr oder ist es ganz woanders?
  • Ist das Pferd gestresst oder fröhlich oder müde oder frustriert oder ängstlich usw.?
  • Will es zeigen, was in ihm steckt, oder weiß es gerade nicht so recht, wo ihm der Kopf steht?
  • Was macht dem Pferd Sorgen, was erhöht seinen Stress?
  • Wann ist ein guter Moment für ein Verlangsamen und für mehr Ruhe und wann geht es darum, mehr Schwung in die Sache zu bringen?
  • Kann das Pferd jetzt überhaupt langsamer werden oder muss es noch ein paar Runden rennen? Kann es (in einem anderen Fall) überhaupt mehr Energie mobilisieren?
  • Wann kann und wann sollte ich mehr Energie hineingeben, die das Pferd auf eine positive Weise nutzen kann? 
  • Wann muss ich mich selbst zurücknehmen?
  • Braucht es in diesem Moment meine Nähe oder mehr Abstand?

Genauso muss ich mir meiner eigenen Ausstrahlung bewusst werden: 

  • Was strahle ich gerade aus? 
  • Wie viel Energie geht von mir aus?
  • Welche Qualität hat diese Energie? 
  • Wodurch zeigt sich meine Energie?
  • Kann ich in dieser Situation meine Energie beeinflussen oder merke ich, dass mir das nicht gelingt? Wie kann ich das, wenn nötig, lernen und üben?

Das Pferd als Spiegel der eigenen Energie

An einem Pferd wie Dreamer kann man den Energiezustand des Menschen sehr gut ablesen, denn solche Pferde nehmen meist die Energie des Menschen komplett in sich auf und vervielfältigen diese wie unter einem Vergrößerungsglas. 

Hier zwei Trab-Fotos, in denen sehr gut zu sehen ist, wie Dreamer auf mein Mehr an Energie reagiert. Auf dem ersten Bild sieht man Dreamer im flotten Vorwärts, ausgelöst durch ein recht dezentes Mehr an Vorwärtsenergie von meiner Seite (leichtes Vorbeugen meines Oberkörpers): 

Im zweiten Bild bin ich von der Körperhaltung eher aufgerichtet und nehme etwas Energie heraus, worauf er tatsächlich ruhiger trabt. Das nutze ich dazu, ihn mit einer zarten Peitschengeste behutsam an seine innere Schulter zu erinnern, was er durch meine reduzierte Energie auch wunderbar genau so versteht und nicht als treibende Hilfe (Dreamer hatte übrigens vor nicht allzu langer Zeit panische Angst vor Peitschen, es ist schön zu erleben, dass auch ein solches Pferd lernen kann, dass es Menschen gibt, die nichts Böses damit vorhaben):

Freiarbeit

Ein temperamentvolles Pferd wie Dreamer ist immer zum Galoppieren bereit. Die Kunst aber ist, mit ihm einen ruhigen und gesetzten Galopp zu erreichen (wovon er auch hier noch weit entfernt aber für seine Verhältnisse immerhin schon auf dem Weg dorthin ist) und dafür braucht es sehr viel innere Ruhe und Sammlung meinerseits. 

Freiarbeit

Und für einen ruhigen Schritt in korrekter Stellung und Biegung braucht es fast schon die Grundenergie eines Buddhas 🙂 

Freiarbeit

Die Energie unserer Gedanken

Sehr wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, dass auch unsere Erwartungen Energie sind und dass wir gerade bei so sensiblen Pferden wie Dreamer nicht nur auf unsere Körpersprache achten müssen, sondern auch auf unsere Gedanken und inneren Bilder. Wir können körpersprachlich noch so ruhig wirken, wenn wir innerlich (ab)werten oder kritisieren, hadern oder fordern, merken sehr viele Pferde das sofort und werden darauf reagieren.

Weniger ist hier auf jeden Fall mehr, denn für mich besteht das Ziel guter Freiarbeit nicht in spektakulären Aktionen, sondern vielmehr darin, dass sich auch ein Pferd wie Dreamer vertrauensvoll entspannen kann, um dann auf dieser Basis heraus zeigen zu können, was in ihm steckt. 

Freiarbeit

31. Oktober 2017 von Tania Konnerth • Kategorie: Erkenntnisse, Freiarbeit, Umgang, Verhalten 14 Kommentare »

 

14 Reaktionen zu “Freiarbeit ist Energiearbeit”

 

Von Andrea • 1. November 2017

Liebe Tania, ich habe auch so ein Pferd dass mal Genie und mal Wahnsinn ist:-). Freiarbeit auf der Weide klappt gut da ich es immer spielerisch verbinde. das mag er. Aber Freiarbeit auf dem Roundpen klappt erhlich gesagt gar nicht gut. Ich bringe ihn dort fast gar nicht in Bewegung ausser ich mache wirklich recht viel Druck jedoch dann wird er zu recht natürlich Sauer und wendet sich ab und bekommt stress. Kann es am Roundpen liegen weil es Rund ist?
Liebe Grüsse Andrea

_________________

Hallo Andrea,

ja, das kann schon gut möglich sein, dass der Roundpen das Pferd stresst. Ich arbeite sehr viel lieber auf eckigen Plätzen.

Probier doch vielleicht mal, im Roundpen nicht genauso zu arbeiten wie auf der Wiese, sondern leg da den Fokus auf Spielen und Freude und Kasperkram und lass ihn ganz viel selbst gestalten. So könnte dieser Ort vielleicht nach und nach positiver besetzt werden.

Herzlich,
Tania

 

Von Antje Helfrich • 1. November 2017

Ganz toller Artikel. Eines meiner Minis ist ähnlich. Er ist auch immer 150% und spiegelt meine Energie sehr stark. Ganz so einfach zu lernen den Stress zuhause zu lassen, und an Tagen an denen mir das nicht gelingt brauche ich gar nicht erst anfangen mit ihm zu arbeiten. Und immer noch schwer von mich zu lernen wie ich richtig Lobe, auch bei ihm kann ein „zuviel“ leicht nach hinten losgehen. Dafür gibt es dann manchmal diese Momente wo ich irgend etwas nur „Denken“ muß und schon erfolgt seine Reaktion. 🙂

Antje

 

Von Yasmin • 1. November 2017

Sehr guter Beitrag! Viele Menschen sind sich in der Arbeit mit Pferden ja nicht einmal bewusst, dass sie sowas wie eine „Energie“ haben, die das Tier beeinflusst ( oder was das überhaupt sein soll 😉 ) Du hast das sehr schön und klar beschrieben. Super!

 

Von Helen Michel • 1. November 2017

Hallo Tania

Das hast du sehr schön beschrieben, der Dreamer ist ja ein toller Lehrer… Ich mag solche Spezialisten! Die unser tun immer, sehr schön korrigieren können.

 

Von Maja • 2. November 2017

Ich habe auch so einen sensiblen Wallach und sehr interessant fand ich kürzlich bei der Freiarbeit ein Experiment, dass ich mit ihm aus probiert hatte. Einmal war ich im Roundpen und einmal mein Mann. Wir hatten an diesem Tag augenscheinlich unterschiedliche Ausstrahlungen und das hat er eins zu eins widergespiegelt. Ich war in mir ruhend, dementsprechend langsam und eher lustlos lief er. Mein Mann stand unter Spannung und musste sich nur in die Mitte stellen ohne irgendetwas zu tun, da raste er plötzlich fauchend wie von der Tarantel gestochen im Kreis. Das fand ich sehr spannend zu beobachten wie das Pferd alleine auf die mentale Anspannung zweier Personen unterschiedlich in der Mitte reagiert hat ohne dass überhaupt etwas Konkretes passieren muss.

 

Von Anna • 2. November 2017

Liebe Tanja,

Vielen Dank für den tollen Artikel, das Thema Freiarbeit und Energie finde ich sooo spannend!
Meine Stute hat mir schon sehr viel beigebracht, den Punkt, dass meine Freude während des Lobens sie manchmal stressen kann, kenne ich auch nur zu gut…
Liebe Grüße
Anna

 

Von Alexandra • 3. November 2017

Hallo Tania,

vielen Dank für diesen Artikel, ich glaube das Thema Energie ist nicht nur in der Freiarbeit sehr wichtig. Ich weiß nicht wie es euch anderen geht, aber ich kann mich nur erinnern an Reitlehrer/innen, die mich zum Einsatz von mehr Energie im Sinne von „setz dich durch“ angeleitet haben. Da das spätestens bei meinen zwei Herren gar nicht geklappt hat (vorher auch nur bedinget) hab ich zwar die zusätzliche Energie zum „Durchsetzen“ immer wieder schnell runtergefahren, war aber sonst ziemlich ratlos und hab mich zeitweise schlicht für zu blöd zum Umgang mit Pferden gehalten.
Bis mir die beiden in mühevoller Kleinarbeit und nach einem Aha-Erlebniss endlich klarmachen konnten, das mein Energielevel grundsätzlich zu hoch ist, und daß das was ich für Entspannt halte nicht Entspannt ist. Seit ich meine Hausaufgabe „Entspannung üben“ regelmäßig und erfolgreich mache, klappt alles plötzlich viel besser;-))

Liebe Grüße

Alexandra

 

Von Nina • 6. November 2017

Sehr eindrücklicher Text mit wundervollen Bildern. Danke!

 

Von Maike • 6. November 2017

Schön, dass wir da nicht alleine sind! Meine Stute ist genauso und bei ihr habe ich gelernt meine eigene Energie runterzufahren und mich zu zentrieren um Ruhe und Konzentration in unser Zusammemnsein zu bekommen.

Mein Youngster ist das komplette Gegenteil. Er wächst fest und braucht jede Energie von außen, die er kriegen kann. Eine völlig neue Herausforderung für mich. 🙂

 

Von Tanja • 6. November 2017

Hallo, ich freue mich so über diesen Artikel: Ich lese euren Blog schon lange, habe meine Realität aber wenig widergespiegelt gesehen, bis heute. Mein Wallach ist wie Dreamer, wäre er ein Kind wäre er HSP, Autist und ADHS in einem, und entsprechend unbrauchbar sind viele Ratschläge, die ich gerne unaufgefordert bekomme. Er reagiert auf einen Fingerzeig oder ein Kopfnicken und kommt von 0 auf 180 in einer Sekunde, aber inzwischen weiß er auch, dass ich seine Sicherheit bin und meine Ruhe macht ihn kompromißbereit. Ich nehme ihn, wie er ist und genieße jeden Tag mit diesem außergewöhnlichen Pferd, es macht einfach nur Spaß mit ihm zu arbeiten.

 

Von Johannes • 6. November 2017

Liebe Tanja,
ich finde Deine Beschreibung der Arbeit mit Deinem „Monster“ extrem erhellend und auch erfrischend, sodass ich den Artikel gleich an meine Tochter weitergeschickt habe, die gerade eine Lehre zum Pferdewirt im HuL Marbach begonnen hat. Dort wird sicherlich auf derartige Feinheitten nicht soviel Wert gelegt. Mach weiter so wie bisher.
Herzlichst Johannes

 

Von Tania Konnerth • 6. November 2017

Ein herzliches Dankeschön für all die vielen, tollen Rückmeldungen. Ich freue mich sehr – und Dreamer sicher auch 🙂

Und ja, das was Alexandra geschrieben hat, ist sehr wichtig: Das Thema Energie spielt keineswegs nur bei der Freiarbeit eine Rolle!

Lieber Gruß,
Tania

 

Von Pia Hawranek • 6. November 2017

Mein erster Gedanke: WOW
Dieser Text ist mir richtig unter die Haut gegangen und hat mir einiges, was ich bisher so 3/4 begriffen hatte nochmal wirklich klar gemacht! Du hast die Energiearbeit mit den absolut perfekten Worten beschrieben und ich konnte meinen kleinen Schatz und mich im Beschriebenen gut wiederfinden. Ich kann es gar nicht erwarten morgen mein Pony von der Wiese zu holen und an meiner Energie zu arbeiten. Aber ich weiß, immer mit der Ruhe, sonst wird es dem Sensibelchen zu viel. Und auch wenn die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn manchmal seehr schmal ist liebe ich ihn doch gerade deswegen so sehr! Was wären wir ohne unsre besten Lehrer dieser Welt, ohne unsere Pferde? Die jeden Gedanken der dir durch den Kopf fährt erhaschen und wenn man nur genau genug hinhört immer mit purer Ehrlichkeit antworten.
Dank euch freue ich mich sogar auf Montage, weil da kommt der Newsletter! Vielen Dank für die vielen inspirierenden Ideen und macht weiter so!
LG Pia und Rostty

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Ganz herzlichen Dank, Pia, wir freuen uns riesig!
Tania

 

Von Silvia Marhenke • 10. November 2017

Ganz herzlichen Dank für den supertollen Beitrag und die eindrucksvollen, anschaulichen Bilder. Ich habe den Text erst gerade gelesen und musste schmunzeln, weil er so gut zu meinem Erleben gestern Abend mit meiner Stute Indiana passt: Ich versuche Freiarbeit in Alltagssituationen einzubauen. So gestern Abend als ich Indiana nur mit meiner Energie versuchte vom Paddock in den Stall zu bringen, obwohl sie sehr gerne noch draußen geblieben wäre. Viel Energie: sie rannte aufgeregt auf dem Paddock ihre Kreise, dann Nähe, Energie runtergefahren, am Hals gestreichelt, sie ging mit mir in den Stall. Eine schöne Erfahrung.

 

 

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