Pferdeverhalten verstehen: Sehen lassen!

Wir freuen uns riesig, dass wir für unser Blog mit dem Tierfilmer Marc Lubetzki zusammenarbeiten können. Marc macht nicht nur ganz zauberhafte Aufnahmen von Wildpferden aus aller Welt, sondern er bietet mit seinen Filmen einen reichen Schatz an Informationen für alle, die mit Pferden zu tun haben. Das Wissen, das er zur Verfügung stellt, kann uns ganz unmittelbar und praktisch dabei helfen, Pferde nicht nur besser zu verstehen, sondern auch besser mit ihnen umzugehen. Was wir damit meinen, möchten wir heute gleich an einem ganz konkreten Beispiel aufzeigen – es geht um das Thema „Sehen“. 

lubetzki_sehen1Exmoor-Pony (Stute) mit entspanntem Auge beim Ruhen im Stehen,
Foto von Marc Lubetzki

Interessante Informationen… 

Marc hat in seinem Grundlagenfilm über die Sinne der Pferde unter anderem Folgendes herausgearbeitet:

  • Pferde haben ein weiteres Blickfeld als wir und sehen mit jedem einzelnen Auge unabhängig voneinander verschiedene Dinge.
  • Pferde können erst räumlich sehen, wenn sie den Kopf zum Objekt hinwenden, so dass sie es mit beiden Augen erkennen können.
  • Sie müssen recht nah an einem Objekt sein (20m), um es wirklich scharf sehen zu können,
  • gleichzeitig können sie aber Bekanntes auf bis zu 400m Entfernung erkennen.
  • Pferde können weniger Farben sehen als wir.
  • Sie sehen im Dunkeln besser als wir, brauchen aber länger als wir, bis sich das Auge daran gewöhnt hat. 

Spannend, oder? 

… und was wir mit ihnen machen können

Richtig spannend wird es aber erst, wenn wir solche Informationen in unseren praktischen Umgang mit dem Pferd einfließen lassen, indem wir uns fragen, was all das nun konkret für unser Miteinander bedeutet.

Oft genug interpretieren wir Pferdeverhalten als Widersetzlichkeiten oder Unarten und korrigieren unsere Pferde oder bestrafen sie gar dafür, sind uns aber gar nicht darüber bewusst, wie unfair das eigentlich ist, da das Pferd in solchen Moment häufig einfach nur Pferd ist. Gerade beim Sehen wird das sehr deutlich. 

Dadurch dass Pferde anders sehen als wir,  machen sie nämlich bestimmte Dinge ANDERS als wir: Sie müssen sich beispielsweise zu einem Objekt hinwenden, also den Kopf drehen, um es räumlich erkennen zu können. Ein Pferd, das zu etwas hinschauen möchte, entzieht sich also nicht, wie so oft angenommen, einfach den Zügelhilfen und ist damit widersetzlich, sondern es tut etwas, seiner Natur entsprechend vollkommen Natürliches und Nachvollziehbares. Und ein Pferd, das auf dem Ausritt den Horizont fixiert, bleibt nicht einfach „stur“ stehen (und ist damit widersetzlich), sondern es tut etwas in seiner Welt vollkommen Natürliches und Angemessenes: Es scannt die Gegend nach Bedrohungen ab und braucht seine Zeit, all die Informationen, die es über den Sehsinn aufnimmt, zu verarbeiten.

Und mehr noch: Dadurch, dass Pferde anders als wir sehen, nehmen sie auch eine tatsächlich andere Welt wahr. Für Pferde sieht die Welt ganz real anders aus als für uns und so wissen wir tatsächlich gar nicht, was unser Pferd eigentlich wirklich sieht! Sich das einmal klar zu machen, dürfte so manche Reaktion unseres Pferdes erklären, die für uns „vollkommen unverständlich“ erschien und für die wir es vielleicht ermahnt oder gar gestraft haben.

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Konik (Junghengst) beim Naherkunden von Unbekanntem (in diesem Fall
der Fotograf), neben dem Sehen wird auch der Geruchssinn eingesetzt,
Foto von Marc Lubetzki

Es geht nicht um richtig oder falsch

Wir Menschen gehen leider im Normalfall ganz automatisch davon aus, dass das, was wir sehen „richtig“ ist. Aber der entscheidende Punkt ist, dass es nicht um „richtig“ und „falsch“ geht, sondern um unterschiedliche Wahrnehmungen, die einfach so sind, wie sie sind. Wir Menschen sehen die Welt mit Menschenaugen, Pferde mit Pferdeaugen und das, was wir jeweils sehen, unterscheidet sich durch anatomische Gegebenheiten. 

Ein Pferd kann schlicht und einfach nicht so sehen wie wir, es kann nur sehen, wie ein Pferd. Und wenn wir es für ein Verhalten bestrafen, dass naturgemäß aus seiner Art zu sehen stammt, handeln wir hochgradig unfair. 

Wenn sich ein Pferd z.B. „festglotzt“, dann ist das also keineswegs, wie leider oft behauptet, Unwille oder gar dominantes Verhalten, sondern es ist seine Art zu sehen. Und ein Spruch à la „Da ist doch nichts, jetzt reiß dich mal zusammen!“, wenn ein Pferd aufgeregt in eine Ecke schaut, vielleicht auch noch in der Kombination mit einem rüden Rupfen am Strick oder einem kräftigen Treiben beweist leider nur, dass dieser Mensch nicht pferdegerecht denkt und handelt. 

Pferde verstehen, heißt ihr Verhalten anders zu interpretieren

Nun geht es in diesem Artikel ja nur um das Sehen – Pferde hören aber auch anders als wir, sie riechen anders als wir, sie fühlen anders als wir, sie leben anders als wir, für sie sind andere Dinge wichtig als für uns und so weiter und so fort. Das einmal wirken zu lassen, sollte uns dafür sensibilisieren, dass unsere vorschnellen Interpretationen von Pferdeverhalten fast immer zu kurz greifen und sehr, sehr oft vollkommen falsch sein dürften. 

Wir denken, dass es unsere Aufgabe ist, wirklich zu begreifen, dass Pferde anders sind als wir und dass erst einmal ohne Wertung zu akzeptieren. Nur das öffnet überhaupt erst eine Tür, unser Mitgeschöpf respektvoll behandeln zu können.

Wenn wir einen fairen und pferdegerechten Umgang wollen, müssen wir uns von der Annahme verabschieden, dass wir als Mensch das Recht haben, entscheiden und einfordern zu können, wie sich ein Pferd zu verhalten hat. Pferde verhalten sich ihrer Natur entsprechend und wenn wir sie dafür korrigieren oder bestrafen, handeln wir immer gegen ihre Bedürfnisse, ihr Wesen und ihr Sein. Ein respektvoller Weg setzt für uns Verstehen und Annahme voraus – und nur auf dieser Basis aus sollte dann Lernen und Entwicklung stattfinden.

Und wer Marc nun gerne selbst erleben will, kann diesen kleinen Film anschauen, in dem Marc einen weiteren sehr spannenden Aspekt zu diesem Thema beleuchtet.

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Konik (Junghengst) bei normaler visueller Wahrnehmung
der näheren, bekannten Umgebung,
Foto von Marc Lubetzki

8. November 2016 von Tania Konnerth • Kategorie: Anatomie und Körper, Engagement und Pferdeschutz, Umgang, Verhalten 6 Kommentare »

 

6 Reaktionen zu “Pferdeverhalten verstehen: Sehen lassen!”

 

Von Kelly • 8. November 2016

Hallo,
wieder ein tolles Thema. Die Welt mit den Augen des Pferdes sehen. Im Übrigen sind die Videos von Marc Lubetzki sehr, sehr empfehlenswert für Jeden, der mit Pferden zu tun hat.
Viele liebe Grüße. Kelly

 

Von Birgit • 11. November 2016

Sehr interessantes Thema. Ich lasse mein Pferd immer gucken und geb ihr die Zeit, die sie braucht. Auch wenn Pferdeäpfel auf dem Weg liegen, werden die eingehend beschnuppert. Warum auch nicht? Bleiben wir eben stehen. Pferde sind unsere Partner, keine Leibeigenen. Lange Zeit bin ich belächelt worden für mein „Verständnis“ und das angeblich fehlende Durchsetzungsvermögen.
Mein Pferd dankt es mir jeden einzelnen Tag, ist gern mit mir zusammen und so langsam ändern die anderen Stallkollegen ihr Verhalten ihren Pferden gegenüber und lassen ihre Pferde auch Pferd sein. Das ist herrlich anzusehen. Glück kann so einfach sein.
Liebe Grüße Birgit

 

Von Ursula Hess • 14. November 2016

Liebe alle

Danke für diesen Artikel. Ein guter Hinweis, dass wir Menschen nicht das Mass aller Dinge sind ;-).

Ja, mein Pferd „guckt“ auch immer alles genau an oder scannt die Gegend – letzteres vor allem auf grossen Flächen oder auf Hügeln. Ich lass ihm die Zeit. Wenn alles ok ist, beschnuppert oder keine Raubtiere in Sicht, geht er zufrieden weiter. Kein Stress für beide nicht. Mir geht es wie Birgit: ich werde auch etwas belächelt. Ist mir nur herzlich egal, solange ich merke, dass mir mein Pferd je länger je mehr vertraut. Und er soll beim Ausreiten auch die Umgebung erkunden können: finde es immer wieder spannend, was er sich anguckt, was er probiert und was er frisst: Rinde und Erde manchmal, Brombeeren … ziemlich wählerisch, der Kerle, und mir zeigt es, was er braucht und ob ihm etwas fehlt. Und selber komme ich beim Beobachten auch zur Ruhe ;-).

Ich bin froh, wenn mein Pferd die Umgebung beobachtet und mir zeigt, dass es lebendig ist. Zwar muss ich manchmal gut im Sattel sitzen, weil er sich mit einem Schlenker in die „Sehposition“ bringt, aber ich freu mich, dass sein Selbstvertrauen je länger je besser wird.
Sehen lassen bringt’s :-)!

Herzlich Ursula

 

Von Gabi Muckel • 14. November 2016

Hallo zusammen,
das ist ein interessantes Thema über das ich auch schon häufig mit anderen „gestritten“ habe. Nämlich immer dann, wenn ich mein Pferd schauen lasse. Er (17 Jahre) geht an allem vorbei – egal ob Traktor, Feuer, bellende Hunde, etc. etc. – man muss ihm nur die Gelegenheit geben sich zu orientieren.
Ich halte es für ausgesprochen wichtig ein Pferd zu reiten das mitdenkt. Er vertraut mir und ich ihm. Aber das war oder ist immer noch ein dauerhafter Lernprozess. Wenn ich ihn schicke, fragt er gelegentlich nach „willst du das wirklich?“ Ein sanfter Schenkeldruck ein kurzes Auffordern und er geht.

Schade, dass sich so wenig Reiter mit dem Wesen Pferd beschäftigen. Es ist so viel schöner mit gegenseitigem Vertrauen durchs Gelände zu gehen.

Herzliche Grüße
Gabi

 

Von Claudia • 16. November 2016

Hallo zusammen,

vielen Dank für das Video von Marc. Es ist super!! Es macht absolut Sinn und bringt einem mal wieder auf den Boden. Super interessant!!

Freue mich auf mehr.

Liebe Grüsse
Claudia

 

Von Marion • 28. November 2016

Hallo zusammen,
das ist wieder einmal ein sehr interessanter Beitrag aus dem man viel lernen kann. Auch ich bin immer genervt wenn meine Stute (10 Jahre)beim Ausritt plötzlich wie angewurzelt stehen bleibt und dann wie gebannt in eine Richtung starrt, oft für Minuten oder immer wieder. Ich wusste absolut nicht, dass das Pferd nur so etwas genau betrachten kann. Werde das beim nächsten Ausritt berücksichtigen und ihr Zeit lassen sich um sich Dinge genau anzusehen.

Die Beiträge sind immer toll, habe schon sehr viele Anregungen daraus übernommen können.

Danke (ich denke auch im Namen meines Pferdes).

Marion

 

 

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