Die große Zeitfrage
Oftmals werden mir ganz typische Fragen gestellt wie diese hier:
- „Ich möchte mein Pferd in die Grundausbildung geben. Wie lange wird es wohl dauern bis mein Pferd soweit ist, dass ich mit ihm in allen Gangarten entspannt ins Gelände gehen kann?“
- „Ich trainiere jetzt mein Pferd nach Ihrem Longenkurs. Wann wird es voraussichtlich ausreichend Muskulatur aufgebaut haben, dass ich es auf einem Wanderritt mitnehmen kann?“
- „Mein Pferd steigt nicht in einen Pferdeanhänger ein. Ich werde es nun mit Hilfe des Clickertraining versuchen. Wie dauert es, bis sich mein Pferd zuverlässig verladen lässt?“
Ich könnte Ihnen noch etliche Beispiele bringen, aber ich denke Sie verstehen, worauf diese Fragen an mich abzielen. Und auch wenn ich mir Mühe gebe, meine Antworten auf Fragen wie diese individuell zu gestalten und so gut wie möglich zu beantworten, so lautet sie auf den Punkt gebracht letztlich immer nur: Ich weiß es nicht!
Ja klar, es gibt Erfahrungswerte. Da ich schon einige Pferde in der Grundausbildung hatte, könnte ich die erste Frage z.B. so beantworten: Wenn das Pferd keine größeren physischen und psychischen Probleme hat, sollte man im Normalfall nach ca. vier bis sechs Monaten Ausbildung mit diesem Ergebnis rechnen können.
Nur: Jedes Pferd ist anders!
Und nicht nur jedes Pferd, nein, auch jeder Mensch, der mit dem Pferd umgeht bzw. reitet, ist anders! Jeder Mensch hat eine andere Ausstrahlung, einen anderen Umgang, einen anderen Sitz, eine andere Hilfengebung und somit gänzlich andere Möglichkeiten dem Pferd die Sicherheit und Gelassenheit zu vermitteln, die es für das Projekt „Ausreiten im Gelände“ braucht. Und wenn ein Pferd dann beispielsweise nach vier bis sechs Monaten Ausbildung mit Bereiter XY auf dem Rücken entspannt ins Gelände geht, bedeutet das noch lange nicht, dass es das auch zu Hause mit dem/r Besitzer/in tun wird…
Hat das Pferd ein von Natur aus eher unsicheres und ängstliches Wesen, können aus den vier bis sechs Monaten auch vier bis sechs Jahre werden. Ich kenne Pferde, die trotz gutem Reiter, gutem Umgang und guter Haltung noch mit 20 Jahren im Gelände reine Nervenbündel sind … (ok, das ist zum Glück aber selten :-)).
Lebewesen sind nicht planbar!
Worauf ich hinaus will: Pferde sind nicht planbar!
Was heute geklappt hat, kann morgen schon nicht mehr funktionieren. Wenn Sie an dem einen Tag Ihr Pferd problemlos verladen konnten, so kann es trotzdem morgen so sein, dass Sie sich wieder zehn Meter vor der Hängerrampe stehend wiederfinden werden, ohne dass Ihr Pferd auch nur einen Meter freiwillig weitergeht.
Warum ein Pferd heute so reagiert und morgen ganz anders, wird uns oftmals nicht ersichtlich sein. Manchmal können wir die Gründe erahnen, so wenn z.B. in der Nähe unserer Verladeübung große Unruhe herrscht, die unser Pferd nervös macht. Vielleicht ist es aber auch nur unsere eigene Angespanntheit, die das Pferd daran hindert mit uns zu gehen? Vielleicht liegen die Gründe aber auch ganz woanders.
Viele Faktoren haben Einfluss auf die Frage: Wie lange?
Auch die Zeitfrage nach körperlicher Entwicklung lässt sich für mich nicht aus der Ferne beantworten. Wie schnell ein Pferd sich muskulär verändern wird, ist von sehr vielen Faktoren abhängig:
- Wie oft wird mit dem Pferd trainiert?
- Wie hochwertig und sinnvoll ist das Training?
- Wie wird das Pferd gefüttert?
- Wie wird es gehalten?
- Passt der Sattel?
- Welche Bewegungsanreize hat das Pferd sonst noch (Haltung)?
- …
Und auch wenn alles optimal ist, so bauen Pferde dennoch ganz unterschiedlich schnell Muskulatur auf. Beim Menschen ist es ebenso: Da geht Herr Meyer ein- bis zweimal die Woche ins Fitnesscenter und macht ein paar Übungen für dicke Arme und sieht nach drei Monaten aus wie Arnold Schwarzenegger in seinen besten Zeiten, während Herr Schmidt sechsmal die Woche in denselben Verein rennt und pumpt, was das Zeug hält, aber der gute Mann ist nach einem Jahr noch immer ein Strich in der Landschaft …
Ich kann das Bedürfnis nach dem Wissen einer Zeitdauer sehr gut nachempfinden. Aber mein Rat an Sie lautet: Versuchen Sie, diesen Wunsch loszulassen. Es dauert so lange, wie es dauert!
Schaffen Sie optimale Bedingungen und beobachten Sie Ihr Pferd gut
Wichtig ist, darauf zu achten, ob die Entwicklung Ihres Pferdes sowohl physisch als auch psychisch in eine gute Richtung geht. Also immer gut schauen, ob sich während Ihres Trainings die richtige Muskulatur aufbaut oder ob z.B. die Kuhlen neben dem Widerrist tiefer werden, was für einen schlechten Verlauf des Trainings spricht. Erspüren Sie, ob Ihr Pferd mit immer mehr innerer Ruhe und Freude in die Zusammenarbeit mit Ihnen bzw. dem Ausbilder Ihrer Wahl geht, oder ob es nervöser, widersetzlicher und immer angespannter wird.
Grundsätzlich gilt: Ein zu schnelles Vorgehen ist in der Regel sehr schädlich für das Pferd.
Zu oft wird die Rechnung ohne das Pferd gemacht
Was nützt es Ihnen und Ihrem Pferd, wenn zwar das Zielbild „Reitbar im Gelände“ schon nach vier Wochen erreicht ist, wenn aber gleichzeitig dabei dem Bindegewebe Ihres Pferdes nicht die Zeit gegeben wurde, die es braucht, um sich auf die Belastung einzustellen und Ihr Pferd nach sechs Monaten z.B. kaputte Sehnen hat? Das Geld, welches Sie im ersten Moment an Ausbildungskosten gespart haben, ist ganz schnell für Tierarztkosten verloren… Und Ihr Pferd im schlimmsten Fall dazu.
Es dauert solange, wie es dauert
Das Pferd zeigt, Ihnen welcher Weg für ihn der richtige Weg ist, und das Pferd entscheidet, wie lange etwas dauern wird. Es gibt einen schönen Spruch, der einer meiner Leitsprüche im Umgang mit Pferden geworden ist:
„Haben Sie immer mehr Zeit als Ihr Pferd“
So versuche ich alle möglichen Situationen und Aufgaben zu lösen, egal ob ich mit einem Pferd vor dem Pferdeanhänger stehe oder ob es um den Aufbau der Muskeln geht, die eine Belastung mit dem Reitergewicht möglich machen.
Ja, wir leben in einer schnelllebigen Zeit. Alles muss schnell gehen, Erfolge müssen sich schnell einstellen. Jungpferde müssen mit drei eingeritten sein und bald auf dem ersten Turnier Erfolge zeigen. Aber unsere Pferde machen bei diesem Zeitgeist nicht mit und das ist gut so! Geben Sie sich und Ihrem Pferd die Zeit, die sie brauchen.
Genießen Sie die Zeit der Entwicklung!
Wie schön ist doch die gemeinsame Zeit des Lernens und Entwickelns! Genießen Sie diese und versuchen Sie nicht um jeden Preis schnell an Ihr Ziel zu kommen. Wir können davon so viel profitieren und so viel in dieser Zeit lernen. Und wie viel besser würde es auf der Welt für die Pferde aussehen, wenn wir Ihnen einfach mehr Zeit geben würden …
23. August 2011 von Babette Teschen • Kategorie: Aus der Bereiterpraxis, Jungpferdausbildung, Longieren, Reiten • 12 Kommentare »