Aber das klappte doch schon!

„Menno, das konnten wir doch schon!“

„Der zickt nur, denn eigentlich kann er das!“

„Es ist zum Verrücktwerden, das ging doch gestern noch problemlos!“

„Kannst Du nicht mal still stehen, bist doch sonst nicht so ein Hampelmann!“

Kommen Euch diese Sätze bekannt vor? Schon mal gehört oder auch selbst gedacht oder gesagt? 

Diese und ähnliche Sätze zeigen einen ganz entscheidenden Unterschied zwischen Menschen und Pferden: nämlich, dass Pferde immer im Hier und Jetzt leben und Menschen meistens nicht. 

Für ein Pferd ist jeder Tag, ja manchmal jeder Moment, in gewisser Hinsicht „neu“. Durch ihre Instinkte, ihre Sinne und ihr Wesen entspricht es ihrer Natur, jeden Moment zu leben und nicht vorauszuplanen oder groß zurückzudenken. Wir Menschen hingegen sammeln Erfahrungswissen und leiten daraus Erklärungen für Vergangenes und Schlüsse für das Jetzt und die Zukunft ab. Deshalb denken wir dann auch so etwas wie: „Mein Pferd ist 20mal problemlos an dem Traktor vorbeigegangen, also kann ich das von ihm jetzt und auch in Zukunft erwarten.“ Und wir gehen sogar meist noch weiter: „Wenn mein Pferd an diesem Traktor vorbeigeht, kann ich auch erwarten, dass es an einem anderen vorbeigeht.“ Aber genau das ist eben nicht immer einfach so der Fall und aus dieser Vorannahme des Menschen entstehen viele Ungerechtigkeiten gegenüber Pferden:

  • Wenn ein Pferd zum Beispiel in der Halle etwas Ungewöhnliches riecht und es den Kopf hochreißt und die Nüstern bläht, dann nützt es ihm nichts, wenn ihn sein Mensch anfährt: „Hey, Du kennst die Halle doch, spinn hier nicht rum!“
  • Wenn ein Pferd auf der altbekannten Geländerunde etwas sieht, das vorher nicht da war (das dem Menschen aber gar nicht auffällt), und es deshalb stehen bleibt, kann der Mensch noch so sehr darauf pochen, dass doch alles wie immer ist und Sporen und Gerte einsetzen, um das Pferd vorwärtszutreiben, dem Pferd hilft das nicht.
  • Wenn ein Pferd, das sonst immer problemlos von der Weide mitkommt, sich an einem Tag weigert, dann nützt es nichts, darauf zu bestehen, dass das „doch noch nie ein Problem“ war und das Pferd vielleicht mit Druck und Gewalt zum Mitkommen zu zwingen
  • Wenn ein Pferd bei der Hufpflege plötzlich das eine Bein ständig wegzieht, weil es ihm das Hinterbein oder der Rücken an diesem Tag weh tut, dann ist es unfair, es dafür zu strafen und das mit einem „Der kann sonst auch ruhig stehen!“ zu begründen. 
  • Und wenn ein Pferd nach einem Umzug plötzlich kaum noch zu reiten ist, weil aus dem vorher eher ruhigen Tier ein Nervenwrack geworden ist, dann ist es vollkommen ungerecht, es anzuschimpfen, dass es sich gefälligst nicht so anstellen soll oder es gar für sein Verhalten zu bestrafen.

Pferde leben im Jetzt

Wenn sie  JETZT etwas Beunruhigendes wahrnehmen, dann zeigen Pferde diese Unruhe, ganz egal, ob sie den Ort eigentlich gut kennen oder die Situation schon x-mal da war, je nach Persönlichkeit nur gering oder eben auch deutlich. Ein Mensch, der in diesen Momenten grob und unwirsch reagiert, handelt nicht pferdegerecht. 

Pferdegerechtes Denken heißt sich immer wieder bewusst zu machen, dass für ein Pferd in jedem Moment alles anders sein kann, als es zuvor war, ohne dass uns das als Menschen wirklich bewusst ist: Es kann anders riechen, es kann andere Geräusche geben, die Atmosphäre kann anders sein, es selbst kann in einer anderen Stimmung sein, ihm kann etwas weh tun, wir können etwas anderes ausstrahlen, es kann windig sein oder kalt oder warm, das Nachbarpferd kann besorgt sein, in der Ferne kann ein anderes Pferd aus Not wiehern und so weiter und so fort. Und entsprechend anders kann jeweils unser Pferd sein und wir müssen verstehen, dass es das nicht willentlich macht, sondern immer als Reaktion auf etwas, das für das Pferd in diesem Moment real und wahr ist. 

Sicherheit geben

Das heißt nun nicht, dass wir jede Laune, Stimmung oder Störung zum Anlass nehmen müssen, alles, was wir gerade mit unserem Pferd tun wollten, sein zu lassen. Aber wir sollten einfach immer wieder das nötige Verständnis für unser Tier aufbringen und ihm nicht unterstellen, dass es uns ärgern oder veralbern will. Diese Annahme ist purer Unsinn und vermenschlicht Pferdeverhalten. Die Sorge eines Pferdes ist in dem jeweiligen Moment immer real für das Pferd, genauso wie es Schmerzen sind oder Aufregung und alles andere. Für uns Menschen steht an, zunächst wahrzunehmen, was unser Pferd gerade bewegt, wenn möglich die Ursache für das Verhalten auszumachen und dann so auf unser Pferd einzugehen und MIT ihm zu arbeiten, dass es sich gut und sicher aufgehoben fühlt und uns vertrauen kann. Denn das ist das Gefühl, welches wir unserem Fluchttier Pferd immer vermitteln sollten: dass es bei uns sicher ist.

Wer sein scheuendes Pferd bestraft, bestätigt es in seiner Angst. Wer einen Stressbeißer schlägt, erhöht den Stress. Wer ein Pferd mit Schmerzen zwingt, weiter Schmerzhaftes zu tun, verstärkt seine Not. Nur wenn wir verstehen, dass die Welt für unser Pferd jedes Mal eine andere sein kann, können wir so reagieren und mit ihm umgehen, dass es uns als verlässlichen Partner kennen und schätzen lernt und nur dann kann unsere Präsenz für unser Pferd beruhigend, wohltuend und tröstlich sein. 

An dieser Stelle müssen wir Menschen lernen, nicht die Pferde. Und die Lernaufgabe lautet: Annehmen, was jetzt gerade ist und nicht dem Pferd vorwerfen, dass es willentlich anders ist, als wir wollen, und deshalb sauer und ungerecht zu werden. Damit verspielen wir jede Chance auf ein vertrauensvolles Miteinander.

15. August 2017 von Tania Konnerth • Kategorie: Erkenntnisse, Umgang, Verhalten 9 Kommentare »

 

9 Reaktionen zu “Aber das klappte doch schon!”

 

Von Constanze • 15. August 2017

Großartig und umfassend beschrieben, dieses ist wieder mal ein Beitrag, der mir zu 100% aus dem Herzen spricht. Vielen Dank dafür

 

Von Silke • 15. August 2017

Hallo,
Da gebe ich dir vollkommen recht. Nach ein paar Vorfällen tun wir uns schwer im Gelände und haben nun ein Intensives Programm draußen auferlegt bekommen. Vor 6 Monaten liefen wir eine echt anspruchsvolle Strecke gut und ich war im Sattel. Nach zwei Wochen Training haben wir es gestern geschafft immerhin 3/4 der Strecke zu reiten. Das was vorher ging, geht also im Moment nicht. Ich bin sehr stolz auf jeden Schritt, den er für mich tut obwohl er Angst oder Bedenken hat. Ich bitte ihn um nur wenigstens einen Schritt mehr. Und er macht es. Sobald ich merke er wird zu unleidig oder zu angespannt steige ich ab und führe. Er wird schon seinen Grund haben und findet es offensichtlich gut, dass ich das Respektiere.
Bei anderen Dingen bleibe ich vielleicht etwas hartnäckiger dran, zeige ihm aber immer, dass ich verstanden habe, dass er mit einer Übung etc. heute ein Problem hat. Manchmal hilft dann nochmal an den Anfang zu gehen, vorsichtig aufbauen und motivieren. Fast immer klappt es dann. Und keiner hat verloren oder gewonnen.

 

Von Tanja • 15. August 2017

Liebe Tania
Das hast du absolut richtig und zutreffend geschrieben! Ich habe meine beiden Pferde von Fohlen an und von daher war es für mich ganz selbstverständlich ihnen jeden Tag aufs Neue alles mit der nötigen Ruhe und Sicherheit zu zeigen – und das ist was, was bleibt. Ich bin dankbar diese Erfahrungen machen zu dürfen und mir dieser Herangehensweise durchaus auch bewusst zu sein. Allerdings komme auch ich immer wieder in Situationen, wo es mir scheinbar nicht leicht fällt meinem Pferd die nötige Sicherheit zu geben.
Bspw. beim vorbei spazieren an Kuhweiden. Es gibt Tage, da interessiet es meinen Dreijährigen absolut nicht. Und dann kommen Tage, da ist er ganz ausser sich. Er prustet, macht sich gross, tänzelt. Strafen ist selbsterklärend absolut keine Option. Loben aber auch nicht, denn ich möchte ihn in diesem Verhalten ja nicht bestärken. Hingegen lobe ich ihn an Tagen, an denen er ganz brav vorbei geht.
Was mache ich aber nun in den genannten Situationen, in denen er scheinbar Angst hat?
Wir kommen schon immer irgendwie vorbei und er reisst sich auch nicht los. Aber ich merke, dass ihm scheinbar meine Sicherheit fehlt. Solche Situationen sind für mich unglaublich schwierig, denn ich weiss, dass ich an mir arbeiten muss. Aber wie genau? Schaue die Gefahr an, einmal tief durchatmen, strahle Gelassenheit aus…. Das ist alles so einfach und schön gesagt. Aber die praktische Umsetzung ist zum Teil wirklich sehr schwierig. Wie vermittel ich ihm, dass er bei mir sicher ist – und zwar auch an genau dieser Kuhweide? Hast du hier noch einen Tipp für mich?
Herzliche Grüsse, Tanja

_____________________

Hallo Tanja,

zwei Gedanken dazu:

Eine selbstsichere und gelassene Ausstrahlung kannst Du nur haben, wenn Du wirklich gelassen und selbstsicher bist. Oft machen wir den Fehler, dass wir unsere eigene Unsicherheit wegschieben, um eben „sicher zu wirken“ – aber das merken Pferde.

Und: Vertrauen muss einfach wachsen und das braucht Zeit – für Euch beide. Je öfter Dein Pferd die Erfahrung machen kann, dass Du auf ihn aufpasst und nicht unfair wirst, wenn er Angst hat, desto besser wird er sich irgendwann entspannen können. Und je öfter Du Situationen gut und sicher händeln kannst, desto sicherer wirst Du.

Aber lasst Euch Zeit! Mit drei ist das Pferd noch sooo jung, da überhaupt schon solche Ausflüge zu machen, ist eine große Sache! Freu Dich über das was geht und hab einfach Verständnis für die wilden Tagen – an denen muss es dann eben vielleicht auch nicht an der Kuhweide vorbei gehen.

Euch beiden alles Gute,
Tania

 

Von Alex • 18. August 2017

Was für ein toller, gelungener Artikel! Vielen Dank!

Das Pferd ist und bleibt ein Fluchttier und wir sollten stolz sein, wenn es uns sein Vertrauen schenkt und uns an den kleinen Dingen und Fortschritten erfreuen.

Das Vertrauen eines Pferdes gewinnt man nur, indem man respektvoll und verantwortungsbewusst mit dem Tier umgeht und sich auch außerhalb der Reiterei“ um das Pferd kümmert und sorgt. Pferde spüren, wer es gut mit ihnen meint und für sie da ist. Das schafft Vertrauen und diese wiederum gibt Sicherheit.

Ein Pferd ist ein Lebewesen und ist, wie wir Menschen auch, nicht jeden Tag in der gleichen, super Verfassung. Spürt man, dass das Pferd sich unwohl fühlt, sollte man es dür diesen Tag mit Arbeit gut sein lassen. Am nächsten Tag klappt’s vielleicht wieder besser.

 

Von Kerstin • 21. August 2017

Das ‚wir können etwas anderes ausstrahlen‘ hättet ihr m. M. ruhig ganz fett schreiben können. Oft wird es wohl so sein, dass wir die oben beschriebenen Situationen selbst vorbereiten, indem wir die – für uns – ganz banalen Dinge (wie Halftern, Putzen, Satteln, von A nach B führen etc.) im Vorfeld auch ganz banal unachtsam ‚erledigen‘. Da hätten wir massig Gelegenheiten, dem Pferd zu vermitteln, dass es bei uns sicher ist, ohne dass wir uns in Gefahr begeben.
btw. Ich habe den Eindruck, dass jede Hilfe – physisch oder verbal – eher eine Hilfe für uns selbst ist, auch dass zu fühlen/auszustrahlen, was wir dem Pferd gerade mitteilen wollen.

 

Von Petra Achenbach • 21. August 2017

Mit diesem Artikel berührt ihr mein Herz!
Das sollte jeder „Pferdmensch“ als Pflichtlektüre lesen müssen! Danke dafür!

 

Von Annett Biener • 21. August 2017

Liebe Babette, liebe Tania,

wie immer ein sehr toller Beitrag. Ich darf es täglich erleben, habe meine 4 Pferde am Haus. Meinen Pferdetraum habe ich mir erst vor 3 Jahren erfüllt. Anfangs ,als ich noch nicht so viel Ahnung hatte, bekam ich viele Tipps, mach es so und oft wurde mir gesagt (Hufschmid, andere Reiter…), du musst dich mehr durchsetzen. Ganz schnell habe ich meinen eigenen Weg gefunden, Dank lieber, einfühlsamer Pferdemenschen. Eure Seite verfolge ich z. Bsp. auch schon seit 2 Jahren. Und, ich stelle immer wieder fest, es gibt tolle gemeinsame Wege, ohne Gewalt, ohne Druck und Stress auszuüben. Die Pferde sind sooo dankbar und geben es 1 zu 1 zurück.

 

Von Heike • 22. August 2017

Hallo, ich habe erst seit kurzem Euren Newsletter, und ich muss sagen, wirklich klasse! Selbst wenn man täglich mit seinen oder anderen Pferden zu tun hat, tut es gut, wenn man immer wieder neue Denkanstöße bekommt oder an an das „Wesen Pferd“ erinnert wird, ich nehme es mir sehr zu Herzen, meine Pferde besser zu verstehen und auch mal die Welt aus ihren Augen zu sehen.
Vielen Dank dafür, freue mich auf weitere tolle Themen.

 

Von Karin-Kelly • 22. August 2017

Liebe Tania,
ein wundervoller Artikel. Leider tappe ich auch manchmal in diese Gefühls-Falle. Mir hilft es dabei, mir bewusst zu machen, dass das Pferd immer ehrlich ist in seinen Gefühlsausdrücken. Das Pferd zeigt immer das was es fühlt und die Gefühle sind immer echt. Auch wenn wir vielleicht manches nicht immer nachvollziehen können, so ist es doch wichtig, dass wir die momentane Gefühlslage des Pferdes akzeptieren. Umso öfter wir es schaffen, den Pferden in schwierigen Gefühlslagen beratend und unterstützend anstatt tadelnd beizustehen, desto inniger wird auch das Vertrauensverhältnis Mensch-Pferd werden.
Viele liebe Grüße. Karin

 

 

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